Freitag, 19. Oktober 2012

Die neuen Asozialen: Ist Erben Leistung oder die schleichende Rückkehr des Klassenkampfs?

Im Standard ist eine Rezension/Artikel von Regina Brückner über Walter Wüllenwebers Buch Die Asozialen Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert. Wüllenweber schreibt über die Entkopplung der Ober- und der Unterschicht von der Mitte der Gesellschaft, die als Ganze durch diese Entwicklung erodiert:
Ober- und Unterschicht, so lautet seine Diagnose, ruinieren das Land. Ihre Gemeinsamkeit: Tricksen. Die einen bei den Steuern, die anderen bei den Transferleistungen. Mit vereinten Kräften werde an den Rändern der Gesellschaft deren Auflösung vorangetrieben. Und der Staat schaue zu, ja unterstütze diese Entwicklung sogar durch die entsprechende Abgaben- und Sozialpolitik.
Das ist ja nicht neu. Und es war scheinbar überfällig, dass jemand die Ressentiments gegen die Unterklasse (Ausnutzen des Sozialstaats) und die Ressentiments gegen die Reichen (Nichtteilnahmenwollen am Sozialstaat) in eine gesellschafts-pessimistische Hülle schmeisst. Der Sozialstaats wird als die "Sozialindustrie", welche die Mitte der Gesellschaft frisst gedeutet. Reichtum wird mit der "Finanzindustrie" gleichgesetzt. Aus der Einleitung des Buchs:


Die wichtigste Gemeinsamkeit sind ihre Größe. Sozialindustrie und Geldindustrie sind die Giganten der Wirtschaft. Die Banken verwalten das meiste Geld. Die Sozialunternehmen beschäftigen rund zwei Millionen Mitarbeiter, fast drei mal so viel wie die Automobilindustrie. Wohlfahrt ist die größte Branche der deutschen Volkswirtschaft. Banker und Helfer, das bedeutet: Kapital und Arbeit. Und damit Macht.
(...)
Die Bedeutung der Demokratie und ihrer Institutionen wurde herabgestuft und die Mehrheit der Gesellschaft auf eine Rolle reduziert: Sie darf nur zahlen. 
Irgendwie interessant. Doch ganz kann ich da nicht mit. Die Mitte der Gesellschaft ist ein Konzept das ich nicht verstehe. Aber dazu später. Es wird gleichzeitig auf eine Zeit rekurriert, Wiederaufbau, Ludwig Erhart, wo die Leute noch gearbeitet haben. Die Unterschicht Arbeiter waren und die Oberschicht mit hohem Steuern sich an der Finanzierung des Staates beteiligt hat. Doch das war eine historische Ausnahmesituation, wie uns die Geschichte lehrt.

Die Unterschicht, die Wüllenweber beschreibt, die auf Privatsendern konjunktur hat, erinnert an die Beschreibungen der Pauper in der Frühindustrialisierung. OK heute haben die Pauper Smartphones und Waschmaschinen. Aber teuer ist heute ja vor allem die Arbeit. Die Reparatur eines Fernsehers ist unrentabel, weil ein neuer billiger produziert werden kann. Gleichzeitig erinnert mich Wüllerwebers Beschreibung an die Charakterisierung des Lumpenproletariats im kommunistischen Manifest:
Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen.
Nur dass Wüllweber nicht den Proletarier, sondern den Leistungsbürger in der Mittelschicht als zentrales Element in der Gesellschaft identifiziert. Das Politikversagen wird im Versagen der Bildungspolitik festgemacht. Und im Gegensatz zum Kommunistischen Manifest, sind die Kapitalisten nicht mehr Treiber des Umbruchs, sondern lassen die Gesellschaft im Stich, weil sich die Leistungsgesellschaft in eine Erbgesellschaft verwandelt hat. Höchste Leistung ist nicht Unternehmen führen oder Arbeitsplätze schaffen (pace Stronach) sondern reich sein.

...but wait a moment, wir waren schon da sagt Thomas Piketty (ON THE LONG-RUN EVOLUTION OF INHERITANCE: FRANCE 1820–2050, Quarterly Journal of Economics 2011). Im Abstract fasst Piketty die Ergebnisse so zusammen:
This article attempts to document and account for the long-run evolution of inheritance. We find that in a country like France the annual flow of inheritance was about 20–25% of national income between 1820 and 1910, down to less than 5% in 1950, and back up to about 15% by 2010. A simple theoretical model of wealth accumulation, growth, and inheritance can fully account for the observed U-shaped pattern and levels. Using this model, we find that under plausible assumptions the annual bequest flow might reach about 20–25% of national income by 2050. This corresponds to a capitalized bequest share in total wealth accumulation well above 100%. Our findings illustrate the fact that when the growth rate g is small, and when the rate of return to private wealth r is permanently and substantially larger than the growth rate (say, r = 4–5% versus g = 1–2%), which was the case in the nineteenth century and early twentieth century andis likely to happen again in the twenty-first century, then past wealth and inheritance are bound to play a key role for aggregate wealth accumulation and the structure of lifetime inequality. Contrary to a widespread view, modern economic growth did not kill inheritance.
Anders gesagt. Zwischen 1820 und 1910 machte Erbschaften ungefähr 20% bis 25% des französischen BIP aus, in den 50er Jahren war es bei 5%. Im ancient regime war Erben somit eine der wichtigen "Leistungen". Piketty schätzt, dass damals das Vermögen rund 700 bis 800% des BIP ausmachte, in den 1950er Jahren war es auf etwa 200% gefallen und dann wieder stetig angestiegen. Heute machen in Frankreich Erbschaften rund 15% des BIP aus.

Ich nehme mal an die französichen Werte lassen sich auf österreichische oder deutsche Werte +/- umlegen. Sollte wahrscheinlich sein. Wissen tun wir es nicht. Wir wussten auch wenig über die Vermögensverteilung vor der OeNB Studie.


Die Vermögensverteilung ist deutlich konzentrierter als die Einkommensverteilung. Wenn die Wachstumsrate niedrig ist und die Verzinsung hoch ist, also Wachstumsrate < Verzinsung, dann spielen Erbschaften eine wichtige Rolle in der Vermögensbildung.

Wenn die Erben ihr Vermögen durch die Verzinsung leichter vergrößern können als Self-made Millionäre Reich werden können, weil diese auf Wirtschaftswachstum angewiesen sind, dann spielen Erbschaften eine wesentliche Rolle für die Persistenz der Ungleichheit. Diese Ergebnisse lassen vermuten, dass Erbschaftssteuern durch einen anderen Blickwinkel auch gesehen werden können, als durch das unsinnige Argument der Mehrfachbesteuerung. Zur Erinnnerung: Erbschaftssteuern waren einmal eine liberale Position (Mill), ebenso wie die Begründung der progressiven Einkommenssteuer (Böhm-Bawerk). Wie Pikettys Ergebnisse zeigen, war Erben zur Zeit dieser Autoren eine wichtige "Leistung".

Ob der Rückgang der Wachstumsrateauf technologisch-wirtschaftliche Gründe zurückführbar ist, oder primär politische Gründe eine Rolle spielen ist eine wichtige Frage in diesem Kontext.
Robert Gordon denkt, dass der Rückgang des Potentialwachstums vor der Tür steht, und dass dies technologische und wirtschaftliche Gründe hat, die jenseits der politischen Einflusssphäre stehen. Dies würde Wüllenwebers (implizite) Schlussfolgerung des Politikversagens ein bisschen auf dem falschen Fuß erwischen. Seine Beschreibung mag richtig sein. Zugegeben: Ich muss es erst wirklich lesen, das Buch. An die Diagnose glaube ich nicht ganz. Allerdings werden in der Zukunft Politik und Steuerpolitik mit Sicherheit eine wichtige Rolle bei wirtschaftspolitischen Diskussion spielen. Wenn der Kuchen nicht mehr aufgeht, kann das eigene Stück nur größer werden, wenn der andere weniger kriegt.

Zur Mitte der Gesellschaft ein ander mal mehr. So wie es aussieht werden uns Fragestellungen wie Vermögensverteilung und Einkommensverteilung in der die politische Diskussion noch stärker als bisher begleiten.


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